Abstimmungsmacht im Bundestag

Aufrufe: 1241     Aktiv: 09.08.2019 um 11:45

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Der Ausgangspunkt

Abstimmungsmacht und Koalionsbildung mathematisch zu beschreiben, ist etwas, was mich sofort fasziniert hat. Hier:

https://fragen.letsrockmathe.de/question/9231/die-mathematik-der-koalitionsbildung/

hat andré dalwigk einen sehr lesenswerten Community-Artikel zu diesem Thema gepostet. Es ist durchaus zu empfehlen, diesen Artikel vor dem vorliegenden zu lesen. Zum Schluss hat er dabei die folgende Tabelle aufgestellt:

Tabelle 1: Machtverteilung auf die einzelnen Parteien bei der Bundestagswahl 2017 (nach andré dalwigk)
\(
\begin{array}{|lr|}
\hline
\textrm{Partei} & \qquad\textrm{Banzhaf-Index}\\
\hline
\textrm{Sonstige} & 0.0516\\
\textrm{CSU} & 0.0595\\
\textrm{DIE LINKE} & 0.0833\\
\textrm{Grüne} & 0.0833\\
\textrm{FDP} & 0.1072\\
\textrm{AfD} & 0.1230\\
\textrm{SPD} & 0.1865\\
\textrm{CDU} & 0.3056\\
\hline
\textrm{Gesamt} & 1.0000\\
\hline
\end{array}
\)

Wie ist diese Tabelle zu verstehen? Es handelt sich um eine Tabelle, bei der die Berechnung der Abstimmungsmacht von Fraktionen in einem Parlament auf ein Wahlergebnis, nämlich das der letzten Bundestagswahl, angewendet worden ist.

Damit eine Partei Abstimmungsmacht im Parlament bekommt, muss sie im Parlament vertreten sein. Bei Bundestagswahlen gibt es eine 5-Prozent-Hürde. Parteien, die diese Hürde nicht schaffen, aber ein oder zwei Direktmandate holen können, sitzen mit genau diesen ein oder zwei (fraktionslosen) Einzelabgeordneten im Parlament. Ein Abeordneter ohne Fraktion kann zwar abstimmen, hat aber sonst nur wenig Rechte. Ab drei Diektmandaten kommt eine Partei ihrem Stimmenanteil entsprechend in den Bundestag, kann aber keine Fraktion bilden, sondern ist eine »Gruppe«, die gegenüber Fraktionen eingeschränkte Rechte hat.

Die »Sonstigen« in Tabelle 1  haben nun weder die 5-Prozent-Hürde genommen noch irgendwelche Direktmandate bekommen. Sie sind also im Bundestag gar nicht vertreten. Ihre Abstimmungsmacht ist deshalb per definitionem 0.

Anzahl der Fraktionen und kombinatorische Koalitionsmöglichkeiten

Deshalb müsste nicht vom Stimmenanteil, den eine Partei bei der Bundestagswahl auf sich vereinigt hat, ausgegangen werden, sondern davon, welche Fraktionen im Bundestag existieren und über wieviele Sitze sie verfügen. Diese Informationen finden sich hier:

https://www.bundestag.de/parlament/plenum/sitzverteilung_19wp

Danach gibt es im Bundestag zur Zeit sechs Fraktionen:

  • CDU/CSU (246 Sitze)
  • SPD (152 Sitze)
  • AfD (91 Sitze)
  • FDP (80 Sitze)
  • Die Linke (69 Sitze)
  • Bündnis 90 / Die Grünen (67 Sitze)

Die erste Frage, die sich stellt, ist die: wieviele verschiedene Koalitionen mit jeweils wieviel beteiligten Fraktionen sind bei sechs im Bundestag vertretenen Fraktionen möglich? Bei sechs Fraktionen kann eine Koalition aus keiner, aus einer, aus zwei, aus drei, aus vier, aus fünf oder aus sechs Fraktionen bestehen.

Eine »Koalition« aus genau Null Fraktionen ist, so wie das parlametarische System in der Bundesrepublik Deutschland gebaut ist, hierzulande nicht möglich. In anderen Ländern wäre eine Regierung ohne formelle Koalition und auch ohne Tolerierungsmodell durchaus möglich. Ob das dann »Koalition« genannt wird, ist dann wohl eher eine Geschmacksfrage. Alleinregierungen, also Regierungen, die nur von einer Fraktion im Parlament unterstützt werden, sind auch in der Bundesrepublik durchaus möglich und waren zum Beispiel in Bayern (CSU), Baden-Württemberg (CDU), Nordrhein-Westfalen (SPD) oder in Bremen (SPD) lange Praxis. Im politischen Sprachgebrauch würde so etwas aber nicht als Koalition bezeichnet werden. Mathematisch ist es aber aus den berühmten Symmetriegründen angebracht, sowohl, die Null-Fraktionen-Koalition als auch die Alleinregierungen als »Koalitionen« in die Betrachtung mit einzubeziehen.

Der Einfachheit halber werde ich auch keinen Unterschied zwischen einer formellen Koalition und einem Tolerierungsmodell [1] machen, obwohl es schon interessant wäre, die speziellen Bedingungen eines Tolerierungsmodells zu untersuchen.

Rein kombinatorisch gibt es bei 6 Fraktionen insgesamt 64 verschiedene Koalitionen. Das lässt sich sowohl über den Binomialkoeffiezienten als auch über das Pascalsche Dreieck herausbekommen. Über den Binomialkoeffizienten geht das so:

\begin{array}{rcccccccr}
{\displaystyle \binom{6}{0}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{(6-0)!\cdot0!}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{6!\cdot0!}} & = & {\displaystyle \frac{720}{720}} & = & 1\\
{\displaystyle \binom{6}{1}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{(6-1)!\cdot1!}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{5!\cdot1!}} & = & {\displaystyle \frac{720}{120}} & = & 6\\
{\displaystyle \binom{6}{2}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{(6-2)!\cdot2!}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{4!\cdot2!}} & = & {\displaystyle \frac{720}{48}} & = & 15\\
{\displaystyle \binom{6}{3}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{(6-3)!\cdot3!}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{3!\cdot3!}} & = & {\displaystyle \frac{720}{36}} & = & 20\\
{\displaystyle \binom{6}{4}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{(6-4)!\cdot4!}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{2!\cdot4!}} & = & {\displaystyle \frac{720}{48}} & = & 15\\
{\displaystyle \binom{6}{5}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{(6-5)!\cdot5!}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{1!\cdot5!}} & = & {\displaystyle \frac{720}{120}} & = & 6\\
{\displaystyle \binom{6}{6}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{(6-6)!\cdot6!}} & = & {\displaystyle \frac{6!}{0!\cdot6!}} & = & {\displaystyle \frac{720}{720}} & = & 1\\
\hline
{\displaystyle \sum} &  &  &  &  &  &  &  & 64
\end{array}

Über das Pascalsche Dreieck können dieselben Zahlen auch ausfindig gemacht werden:

\begin{array}{cccccccccccccccccccccc}
 &  &  &  &  &  &  &  &  &  & 1 &  &  &  &  &  &  &  &  &  &  & \textrm{Anzahl Fraktionen}\\
 &  &  &  &  &  &  &  &  & 1 &  & 1 &  &  &  &  &  &  &  &  &  & 1\\
 &  &  &  &  &  &  &  & 1 &  & 2 &  & 1 &  &  &  &  &  &  &  &  & 2\\
 &  &  &  &  &  &  & 1 &  & 3 &  & 3 &  & 1 &  &  &  &  &  &  &  & 3\\
 &  &  &  &  &  & 1 &  & 4 &  & 6 &  & 4 &  & 1 &  &  &  &  &  &  & 4\\
 &  &  &  &  & 1 &  & 5 &  & 10 &  & 10 &  & 5 &  & 1 &  &  &  &  &  & 5\\
\hline
&  &  &  & 1 &  & 6 &  & 15 &  & 20 &  & 15 &  & 6 &  & 1 &  &  &  &  & 6\\
\hline
&  &  & 1 &  & 7 &  & 21 &  & 35 &  & 35 &  & 21 &  & 7 &  & 1 &  &  &  & 7\\
 &  & 1 &  & 8 &  & 28 &  & 56 &  & 70 &  & 56 &  & 28 &  & 8 &  & 1 &  &  & 8\\
 & 1 &  & 9 &  & 36 &  & 84 &  & 126 &  & 126 &  & 84 &  & 36 &  & 9 &  & 1 &  & 9\\
1 &  & 10 &  & 45 &  & 120 &  & 210 &  & 252 &  & 210 &  & 120 &  & 45 &  & 10 &  & 1 & 10
\end{array}

 

Ermittlung der Abstimmungsmacht

Wenn für die einzelnen Fraktionen die Buchstaben A, B, C, D, E unf F als Kürzel verwendet werden, dann können die möglichen 64 Koalitionen in einer Tabellenkalkulation untereinander geschrieben werden. Auf diese Weise kann dann errechnet werden, wieviele Sitze jede dieser Koalitionen auf sich vereinigt, welche davon gewinnende Koalitonen sind, welche nach Lage der Dinge politisch möglich ist und für jede der Fraktionen auch, in welcher der möglichen Koalitionen sie vertreten ist und in welchen davon sie eine kritische Fraktion ist. Diese Informationen lassen sich dann in Tabelle 2 zusammenfassen.

Tabelle 2: Abstimmungsmacht der Fraktionen im Bundestag
\(
\begin{array}{|l|rrrrrrr|r|}
\hline
\textrm{Fraktion} & \textrm{Sitze} & kF & \qquad\textrm{rel. 1} & kF_{\textrm{gew.}} & \qquad\textrm{rel. 2} & kF_{\textrm{gew.;pm}} & \qquad\textrm{rel. 3} & \textrm{rel. 3}-\textrm{rel. 2}\\
\hline
\textrm{CDU/CSU} & 246 & 27 & 0,220 & 22 & 0,400 & 5 & 0,500 & 0,100\\
\textrm{SPD} & 152 & 21 & 0,171 & 10 & 0,182 & 3 & 0,300 & 0,118\\
\textrm{AfD} & 91 & 19 & 0,154 & 6 & 0,109 & 0 & 0,000 & -0,109\\
\textrm{FDP} & 80 & 18 & 0,146 & 5 & 0,091 & 1 & 0,100 & 0,009\\
\textrm{DIE LINKE} & 69 & 19 & 0,154 & 6 & 0,109 & 0 & 0,000 & -0,109\\
\textrm{B90}\,\textrm{/}\,\textrm{Die Grünen} & 67 & 19 & 0,154 & 6 & 0,109 & 1 & 0,100 & -0,009\\
\textrm{fraktionslos} & 4 &  &  &  &  &  &  & \\
\hline
\textrm{Gesamt} & 709 & 123 & 1,000 & 55 & 1,000 & 10 & 1,000 & 0,000\\
\hline
\end{array}
\)

Dabei bedeutet:

  • \(kF\) kritische Fraktion. Hier steht, in wie vielen Koalitionen die jeweilige Fraktion eine kritische Fraktion ist, unbahängig davon, ob die jeweiligen Koalitionen gewinnend oder politisch möglich sind.
  • \(kF_{\textrm{gew.}}\) kritische Fraktion in gewinnender Koalition. Hier steht, in wie vielen gewinnenden Koalitionen die jeweilige Fraktion eine kritische Fraktion ist, unbahängig davon, ob die jeweiligen Koalitionen politisch möglich sind.
  • \(kF_{\textrm{gew.;pm}}\) kritische Fraktion in gewinnender und politische möglicher Koalition. Hier steht, in wie vielen gewinnenden und politisch möglischen Koalitionen die jeweilige Fraktion eine kritische Fraktion ist.

Die Spalten mit den relativen Angaben beziehen sich immer auf die Spalte direkt links davon. Natürlich gibt es Mehrfachzählungen, was die jeweilige Anzahl an Koalitionsmöglichkeiten betrifft. Zum Beispiel ist in einer großen Koalition (aus CDU/CSU und SPD) eben sowohl die CDU/CSU als auch die SPD jeweils eine kritische Fraktion, weshalb sie dann auch bei beiden Fraktionen gezählt wird. Am Ende gibt es nur fünf Koalitionen, die sowohl gewinnend als auch politisch möglich sind (\(\textrm{gew.}\cap\textrm{pm}\)):

Tabelle 3: Gewinnende und politisch mögliche Koalitionen im gegenwärtigen Bundestag 
\(
\begin{array}{|l|ll|}
\hline
\textrm{Koalition} & \textrm{kritische Fraktionen} & \quad\textrm{nicht kritische Fraktionen}\\
\hline
\textrm{große Koalition} & \textrm{CDU/CSU, SPD} & \textrm{}\\
\textrm{CDU/CSU, SPD, FDP} & \textrm{CDU/CSU, SPD} & \quad\textrm{FDP}\\
\textrm{CDU/CSU, SPD, Grüne} & \textrm{CDU/CSU, SPD} & \quad\textrm{Grüne}\\
\textrm{Jamaika} & \textrm{CDU/CSU, FDP, Grüne} & \textrm{}\\
\textrm{CDU/CSU, SPD, FDP, Grüne} & \textrm{CDU/CSU} & \quad\textrm{SPD, FDP, Grüne}\\
\hline
\end{array}
\)

In diesen fünf Koalitionen ist die CDU/CSU fünfmal kritische Fraktion, die SPD dreimal und die FDP und die Grünen jeweils einmal. Genau das steht auch in der Spalte \(kF_{\textrm{gew.;pm}}\) von Tabelle 2. Da in der Regel nur Koalitionen zustandekommen, in denen alle beteiligen Fraktionen kritische Fraktionen sind, gibt es im gegenwärtigen Bundestag nur zwei realistische Koalitionsmöglichkeiten: eine große Koalition (die regiert gerade) und eine Jamaika-Koalition. Beides ist nach der Bundestagswahl 2017 verhandelt worden, und zwar zuerst die Jamaika-Koalition. Diese Verhandlungen sind dann gescheitert, als die FDP aus den Verhandlungen ausgestiegen ist. [2]

Was in Tabelle 2 zu sehen ist, ist, dass dadurch, dass nicht alle gewinnenden Koalitionen auch politisch möglich sind, sich die Abstimmungsmacht zwischen den Fraktionen erheblich verschiebt. Das geht soweit, dass dowohl die AfD als auch die LINKE im Bundestag über keine Abstimmungsmacht mehr verfügen, weil es gegenwärtig keine gewinnende Koalion gibt, an der sie beteiligt sein könnten. Bei der AfD ist das prinzipieller Natur: keine der anderen Parteien wird eine Koalition mit der AfD eingehen. Die LINKE kann im Prinzip mit der SPD und mit den Grünen Koalitionen eingehen. Auf Länderebene gibt es das zum Beispiel in Thüringen (rot-rot-grün), Berlin (rot-rot) und in Bremen (rot-rot-grün). In Nordrhein-Westfalen hat es etwa zwei Jahre lang eine Minderheitsregierung von SPD und Grünen gegeben, die von der LINKEN, die zu diesem Zeitpunkt im Landtag vertreten war, toleriert wurde.

 

Anmerkungen

[1]
Wie es etwa zwei Jahre lang in Nordrhein-Westfalen existiert hat, als eine Minderheitsregierung aus SPD und Grünen von der Linken de facto toleriert worden ist.

[2]
Siehe zum Beispiel hier:
https://de.wikipedia.org/wiki/Jamaika-Sondierungsgespr%C3%A4che_2017

geschrieben 08.08.2019 um 22:48

Sonstiger Berufsstatus, Punkte: 1.22K

 

Toller Artikel, Jake! Ich habe ihn mir gestern Abend bereits durchgelesen!   ─   09.08.2019 um 11:32 Bearbeiten Löschen

Danke! :-)   ─   jake2042 09.08.2019 um 11:45
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